Studien zur Bildungsbenachteiligung
Insbesondere Kinder aus Familien mit geringem formalen Bildungsniveau sind von Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem betroffen. Die Fülle an Studien ist inzwischen schwierig zu überblicken. Wir stellen hier einige Ergebnisse kompakt dar. Die Quellen finden sich hier.
Geringere Nutzung von Sport- und Musikangeboten in der frühen Kindheit
- Daten der AID:A Studie belegen, dass unter zweijährige Kinder von Eltern mit (Fach-) Hochschulabschluss zu 30% Babyschwimmen und zu 22% Eltern-Kind-Turnen besuchen. Bei den Eltern ohne Abschluss oder max. Hauptschulabschluss sind es 18% bzw. 10% (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, S. 80).
- Ähnliches zeigt sich für die Altersgruppe der Zwei- bis unter Sechsjährigen. Haben ihre Eltern einen (Fach-) Hochschulabschluss, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Sportgruppe besuchen bei 58% und dass sie Musikangebote nutzen bei 25%. Haben ihre Eltern dagegen keinen Abschluss oder max. einen Hauptschulabschluss, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 38% bzw. 10% (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, S. 80).
Unterschiede in der Mutter-Kind-Interaktion
- Die Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) belegen, dass sich die Mutter-Kind-Interaktion in den ersten zwei Lebensjahren des Kindes nach dem sozioökonomischen Status der Familie (Bildung der Mutter, Berufsstatus und Einkommen) unterscheidet. Die Qualität der Interaktion zwischen Mutter und Kind (sensitive Responsivität und kognitiv-verbale Stimulation) ist höher in Familien mit höherem sozioökonimischen Status (Attig & Weinert, 2020).
Geringerere sprachliche Kompetenzen im Alter von fünf Jahren
- Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) belegen, dass Kinder, deren Mütter über geringe oder keine formale Bildung verfügen, hinsichtlich ihres Wortschatz im Alter von fünf Jahren durchschnittlich ein Jahr hinter Kindern zurück liegen, deren Mütter einen Hochschulabschluss haben. Dieser Abstand verdoppelt sich in den folgenden fünf Jahren (Schneider & Linberg, 2022).
- Deutliche Unterschiede je nach Bildungsabschluss der Eltern lassen sich mit den Daten von NEPS auch bezüglich grammatikalischer Kompetenzen von fünfährigen Kindern feststellen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, S. 60f.).
- Innerhalb der NEPS-Elternbefragung zeigte sich außerdem, dass 35% der fünfjährigen Kinder aus einem Elternhaus mit niedrigem Bildungsabschluss in einem Sprachtest als förderbedürftig diagnostiziert wurden. Dagegen wurden 27% der Kinder aus Elternhäusern mit mittlerem Bildungsabschluss und nur 14% der Kinder aus einem Elternhaus mit hohem Bildungsabschluss als förderbedürftig eingestuft (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, S. 62).
Kindertageseinrichtungen werden seltener genutzt und sind sozial segregiert
- Der Anteil an Kindern, die Kindertagesbetreuung in Anspruch nehmen, unterscheidet sich deutlich nach dem höchsten Schulabschluss der Eltern. Während 90% der drei- bis sechsjährigen Kinder von Eltern mit hohem Bildungsabschluss (z.B. Fachhochschulreife) Betreuungsangebote nutzen, sind es bei Kindern von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss (keine Ausbildung) 74%. Bei den unter Dreijährigen ist die Betreuungsquote von Kindern, deren Eltern einen hohen Bildungsabschluss haben, sogar doppelt so hoch (39%) im Vergleich zu Kindern von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss (18%) (Autor:nnengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, S. 105).
- Kindertageseinrichtungen sind sozial und ethnisch segregiert. In Westdeutschland gib es Einrichtungen, die ausschließlich Kinder betreuen, deren Elterngebühren vom Jugendamt übernommen werden, weil die Eltern nur über ein geringes Einkommen verfügen. Gleichzeitig gibt es einen erheblichen Anteil an Kitas, bei denen es keine einzige Gebührenübernahme gibt (Hogrebe et al., 2021).
Schlechtere Rahmenbedingungen in der Kita
- Kindertageseinrichtungen, die überdurchschnittlich stark von sozial benachteiligten Familien besucht werden, haben schlechtere Rahmenbedingungen z.B. eine geringere Personalausstattung und weniger Unterstützung durch den Träger (Schieler und Menzel, 2024).
Ungleiche Sprachstile und Interaktionen in der Kita
- Einige qualitative Studien liefern Hinweise darauf, dass sich Interaktionen in Kindergartengruppen stark unterscheiden können, je nachdem, welchen sozialen Hintergrund die Kinder haben.
- Kinder aus privilegierten Familien (Englisch: upper-middle-class) verfügen über einen Sprachstil, der es ihnen ermöglicht, das Geschehen in der Gruppe zu beherrschen und ihre eigenen sprachlichen Fertigkeiten noch weiter auszubauen. Zudem können sie im Vergleich zu den Kindern aus Arbeiterfamilien (Englisch: working-class) Konflikte häufiger für sich entscheiden, aufgrund ihrer kommunikativen Fähigkeiten (Streib 2011).
- Kinder aus der upper-middle-class kennen sprachliche Symbole und Strategien, die es ihnen ermöglichen, im Vergleich zu Kindern aus Arbeiterfamilien, mehr Anerkennung von Erwachsenen zu bekommen und ihre Position in Gruppen zu verbessern. Dazu zählen z.B. das Nutzen von Höflichkeitsformen (Bitte und Danke sagen) oder das häufigere Ansprechen von Erwachsenen mit deren Vornamen (Lignier 2021).
Ungleiche Fachkraft-Kind Interaktionen in Kindertageseinrichtungen
- Auch der Kommunikationsstil von Erzieher:innen unterscheidet sich nach dem sozialen Hintergrund der Kinder in gemischten Gruppen: Mit den Kindern der weißen Mehrheitsgesellschaft wird eher in einem "austauschenden Ton" gesprochen, die Kommunikation findet auf Augenhöhe statt. Mit den Kindern, die einen Migrationshintergrund haben, wird eher belehrend gesprochen. Es gibt viele Anweisungen und wenig Austausch (Palludan 2007).
- Im Vergleich von zwei homogenen Kindergartengruppen konnten Nelson & Schutz (2007) zeigen, dass sich die Kommunikationsstile in einem Kindergarten mit working-class-Kindern und einem Kindergarten mit Akademikerkindern stark voneinander unterscheiden hinsichtlich der Art und Weise, wie Kinder von Pädagoginnen und Pädagogen gelobt und getadelt werden. In dem Akademiker-Kindergarten werden Kinder für gutes Verhalten gelobt oder einfach dafür, dass sie etwas gebastelt haben. In dem Arbeiter-Kindergarten eher für das Endergebnis des Gebastelten. Getadelt werden Kinder im Akademiker-Kindergarten tendenziell so: "Das ist nicht ok, mach es bitte anders", in dem Arbeiter-Kindergarten bekommen die Kinder Anweisungen: "Stop! Hör auf damit!".
- Espy & Lynn (2023) kamen im Vergleich von zwei amerikanischen "preschools" mit jeweils homogenem Klientel zu ähnlichen Ergebnissen. Die beiden Vorschulklassen unterscheiden sich hinsichtlich der Art und Weise, wie Autorität ausgeübt wird, wie in Konflikten mit Autoritäten umgegangen wird und wie Kinder von den Fachkräften dazu ermutigt werden, für sich selbst zu entscheiden.
Chancenausgleich durch Kindergartenbesuch?
- Im deutschsprachigen Raum existieren zwei aktuelle Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, ob Kitas soziale Ungleichheiten reduzieren können. Sie kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen:
- Salcheregger et al. (2021) konnten in Österreich einen positiven Einfluss des Kindergatenbesuchs auf die Kompetenzen bei allen Kindern feststellen, allerdings profitieren Kinder aus den oberen sozialen Schichten noch mehr davon, was auf eine ungleichheitsverstärkende Wirkung des Kindergartens hindeutet.
- Ghirardi et al. (2022) konnte mit Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS) zeigen, dass sich die Kompetenzlücke zwischen Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten durch den Kindergartenbesuch verringert, der Kindergarten wirkt demzufolge ungleichheitsreduzierend.
Erhebliche Kompetenzunterschiede bei Viertklässlerinnen und Viertklässlern
- Hinsichtlich der Lesekompetenz von Viertklässlerinnen und Viertklässlern belegt die IGLU-Studie 2021, dass Kinder, deren Erziehungsberechtigte der oberen Dienstklasse angehören (z.B. führende Angestellte oder höhere Beamt/innen), 43 Punkte mehr erreichen als ihre Mitschülerinnen und Mitschülern, deren Erziehungsberechtigte der Gruppe der Fach-Arbeiter/innen angehören. Im Vergleich mit Kindern von un- und angelernten Arbeiter/innen wächst der Vorsprung sogar auf 56 Punkte (Stubbe et al., 2023a, S. 165), was rund 1,5 Lernjahren entspricht (ebd. S. 17). Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und der Kompetenz der Kinder hat 2021 im Vergleich zu der IGLU-Studie 2016 nochmal zugenommen (ebd. S. 153).
- Für die Kompetenzen in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaft von Viertklässlerinnen und Viertklässlern beweist die Studie TIMSS 2019 ähnliches. Kinder, deren Erziehungsberechtigte der oberen Dienstklasse angehören, haben in Mathematik ein knappes Lernjahr und in Naturwissenschaft sogar rund eineinhalb Lernjahre Vorsprung vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, deren Erziehungsberechtigte der Gruppe der Fach-Arbeiter/innen angehören. Bei Kindern von un- und angelernten Arbeiter/innen sind die Unterschiede nochmal größer (Stubbe et al., 2020, S. 280).
Unterschiedliche Bildungsorientierungen von Eltern und Kindern
- Positive Bildungsorentierungen bei Eltern und Kind, wie z.B. hohe Bildungsaspirationen oder positive Einstellungen zur formalen Bildung, beeinflussen den formalen Bildungsweg positiv.
- Gleichzeitig unterscheiden sich Bildungsorientierungen nach dem sozioökonomischen Hintergrund. Beispielsweise verfügen Eltern von Kindergartenkindern mit höheren Bildungsabschlüssen bzw. höherer beruflicher Stellung über höhere Bildungsaspirationen für ihr Kind (Becker, 2018, S. 296).
- Aber auch bei den Kindern selbst zeigt sich der Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds. Drittklässler/innen wünschen sich seltener, Abitur zu machen und halten es auch für unwahrscheinlicher, dass sie diesen Abschluss erreichen werden (Gölz & Wohlkinger, 2019). Selbst für Kinder im Jahr vor der Einschulung gibt es inzwischen Hinweise, dass Kinder mit geringeren familiären Ressourcen geringere Bildungsaspirationen haben (Schimmer, 2022).
- Zudem zeigt sich bei Kindern im Jahr vor der Einschulung mit höheren familiären Bildungsressourcen und finanziellen Ressourcen, dass sie eher Vorstellungen davon haben, wie sie persönlich von Schulbildung in ihrem Leben profitieren können. Kinder mit niedrigerer Kapitalausstattung haben diese Vorstellungen nicht. Wenn diese Kinder überhaupt beantworten können, warum Schule wichtig ist, berichten sie davon, dass sie in der Schule Erwartungen erfüllen oder Sanktionen vermeiden müssen (Schimmer, 2022).
Seltener Gymnasium, häufigere Klassenwiederholung
- Die Chance, eine Gymnasialpräferenz der Lehrkraft zu erhalten, ist für Kinder der oberen Dienstklasse rund viermal so hoch wie für (Fach-)Arbeiterkinder und siebenmal so hoch wie ein Kind von un- und angelernten Arbeiter/innen. Auch wenn die Leistungen der Kinder kontrolliert werden, hängt die Lehrkraftpräferenz erheblich und signifikant von der sozioökonomischen Stellung der Eltern ab (Stubbe et al., 2023b, S. 241).
- Analog dazu unterscheiden sich die Bildungshintergründe der Kinder je nach weiterführender Schule deutlich. Im Gymnasium hatten im Jahr 2019 zwei von drei Kindern (67%) Eltern, die selbst (Fach-)Abitur hatten, 22% der Kinder hatten Eltern mit mittlerem Schulabschluss und nur 6% der Kinder hatten Eltern mit Volks- oder Hauptschulabschluss (bpb, 2022).
- Blickt man auf die Kinder, die eine Hauptschule besucht, ist es andersherum: Nur 16% der Kinder hatten Eltern mit Fachhochschul- oder Hochschulreife, 24% hatten Eltern mit einen mittleren Schulabschluss und 42% der Eltern hatten selbst einen Hauptschulabschluss (bpb, 2022).
- Die Wahrscheinlichkeit, bis zum 15. Lebensjahr eine Klasse zu wiederholen, ist für sozioökonomisch benachteiligte Kinder (Eltern mit niedrigem formalen Bildungsniveau, häufig beschäftigt als Hilfskraft oder angelernte/r Arbeiter/in) rund 1,5-mal höher als für den Gesamtdurchschnitt der Kinder (OECD, 2014).
Kompetenzunterschiede setzen sich bei 15-Jährigen fort
- Jugendliche im Alter von 15 Jahren erzielen laut den Ergebnissen der PISA-Studie 2018 unterdurchschnittliche Ergebnisse in den Bereichen Lesefähigkeit. Kinder von un- und angelernten Arbeiter/innen erreichten im Mittel 467 Punkte, während Kinder von Eltern, die in der oberen Dienstklasse arbeiten, 531 Punkte im Durchschnitt erreichten (Weis et al., 2019, S. 146). Auch wenn die Übertragung in (Lern-)Jahre methodisch umstritten ist, kann davon ausgegangen werden, dass dieser Unterschied mehrere Jahre an Kompetenzvorsprung bzw. -rückstand bedeutet (OECD, 2019, S. 50f.).
- Die PISA-Studie 2015 hatte den Schwerpunkt Naturwissenschaft. Benachteiligte Schülerinnen und Schüler (Eltern mit niedrigem Bildungsniveau, häufig beschäftigt als Hilfskraft und angelernte Arbeiter/in), erreichten in den Tests durchschnittlich 466 Punkte, während begünstigte Kinder (Kinder von Eltern mit hohem Bildungsniveau, größtenteils tätig als Fach- oder Führungskräfte) 569 Punkte erreichten (OECD, 2016, S. 430). Die benachteiligten Schülerinnen und Schüler liefern zu 28% schwache Leistungen im Bereich Naturwissenschaft (vs. 5% der begünstigen Schüler/innen) und nur 3% können als leistungsstark bezeichnet werden (vs. 25% der begünstigten Schüler/innen) (OECD, 2016, S. 433-434).
- In der PISA-Studie 2012 wurden mathematische Leistungen untersucht. Eltern, die eine geringqualifizierte berufliche Stellung haben (Hilfsarbeitskraft), erreichten im Durchschnitt 441 Punkte. Kinder von Eltern, die hochqualifiziert sind (Fach- bzw. Führungskraft), erreichten durchschnittlich 550 Punkte (OECD, 2013a, S. 203). Die Differenz von 109 Punkt entspricht ungefähr 3 Lernjahren (OECD, 2013a, S. 204).
Seltener Beginn eines Studiums
- Schaffen es die Kinder aus Elternhäusern mit weniger Bildungsressourcen bis zum Abitur, schneiden sie dort schlechter ab (Köller & Maaz, 2017).
- Während 25% der Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien ein Studium beginnen, sind es 78% der Kinder von Akademiker/innen und damit etwa 3-mal so viele (Kracke et al., 2024).
- Betrachtet man lediglich Studienberechtigte, zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich junge Erwachsene aus Akademikerfamilien für ein Studium entscheiden, um fast 13 Prozentpunkte höher ist als jene von Studienberechtigten aus Nicht-Akademikerfamilien (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022, S. 205).